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«Uns obliegt es, den Gang der Ereignisse der Gegenwart zu studieren und vor allen Dingen bei diesem Studieren zugrunde zu legen dasjenige, was uns an Urteilen zukommen kann durch die Tatsachen, die aus anthroposophischer Geisteswissenschaft selber folgen.
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Bei allem, was hier von mir gesprochen wird, liegt immer zugrunde die Verantwortung gegenüber dem ganzen Gang der gegenwärtigen Weltereignisse. Bei jedem einzelnen Satze, bei jedem einzelnen Worte liegt diese Verantwortung zugrunde. ich muß das schon erwähnen aus dem Grunde, weil es nicht immer in aller Schärfe eingesehen wird.»

Aus:

VIERTER VORTRAG
Dornach, 14.August 1920
RUDOLF-STEINER-GESAMTAUSGABE Nr. 199
Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse sozialer Gestaltung
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Sie werden aus dem Zusammenhange mancher Darlegungen der letzten Zeit mit allerlei Kundgebungen von außen eines wohl entnehmen kön­nen, daß unsere anthroposophische Bewegung in ein Stadium eingetre­ten ist, welches von jedem einzelnen, der sich an ihr beteiligen will, vor­aussetzt, daß er diese Beteiligung mit einem sehr ernsten Verantwort­lichkeitsgefühl verbindet. Es ist ja in dieser Richtung öfters von mir gesprochen worden. Allein es wird nicht immer der Zusammenhang, um den es sich dabei handelt, in durchdringender Weise ins Auge gefaßt. Wir dürfen eben, gerade weil wir innerhalb unserer Bewegung stehen, nicht aus dem Auge verlieren, in welch ungeheuer ernster Zeit die euro­päische Zivilisation mit ihrem amerikanischen Anhange sich gegen­wärtig befindet. Und wenn wir auch gar nicht von uns aus das eine oder das andere sagen würden ‑ was aber durchaus zu sagen notwendig ist –, was als Zusammenhang besteht zwischen den Impulsen, die aus anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft kommen und den zeit­geschichtlichen Ereignissen der Gegenwart: diese Ereignisse der Gegenwart würden heranschlagen an das, womit wir uns beschäftigen, und würden ganz zweifellos auch ohne unser Zutun sich mit dem beschäfti­gen, was in unserer Linie liegt. Es handelt sich darum, daß wir tatsäch­lich nicht die Augen verschließen vor der ganzen Bedeutung dessen, was mit solchen Worten angedeutet ist.

Es ist vielleicht einer Reihe von Freunden, denen es früher noch nicht klar war, gerade aus den gestrigen Darlegungen von Dr. Boos klar geworden, in welch notwendigem und sachlichem Zusammenhange die Dreigliederungsidee mit alledem steht, was auf dem Grunde der an­throposophisch orientierten Geisteswissenschaft gewollt ist.

Der Weltengang gleicht gegenwärtig einem außerordentlich komplizierten Organismus, und aus den mannigfaltigsten Erscheinungen, die man sorgfältig beobachten muß, geht hervor, welchen Gang dieser Organismus nimmt. Es geschieht heute sehr vieles, was zunächst schein­bar unbedeutend ins Dasein tritt. Dieses Unbedeutende, dieses scheinbar Unbedeutende bedeutet aber zuweilen etwas außerordentlich Ein‑

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schneidendes und Eingreifendes. Es geschehen Dinge wiederum, die im eminentesten Sinne zeigen, wie außerordentlich schwer es ist, sich aus den altgewohnten Vorstellungen heraus zu einer Anschauung aufzu­schwingen, die der heutigen Zeit angemessen ist.

Sie sehen aus mancherlei Zeitungsäußerungen der letzten Tage, wie das, was hier von Dornach ausgeht, hinauswirkt in die Welt, wie es zum Teil von diesem oder jenem aufgenommen wird, und man soll eben solche Ereignisse außerordentlich ernst betrachten. Man soll sich darüber klar sein, daß im Grunde genommen jedes Wort, das von uns heute ausgesprochen wird, durch und durch bedacht sein muß, und daß wichtige Worte eigentlich nicht ausgesprochen werden sollten, ohne daß man sich die Verpflichtung auferlegt, sich von dem allgemeinen Welten­gang, wie er eben heute ein außerordentlich komplizierter Organismus ist, Kenntnis zu verschaffen. Auf Dinge, die hier in Betracht kommen, wird mir noch obliegen, in der allernächsten Zeit einzugehen; aber ich möchte heute einleitend doch dieses bemerken, daß gerade durch die Verknüpfungen unserer Bewegung mit dem allgemeinen Weltengange es uns vor allen Dingen obliegt, wirklich ein volles Verständnis dafür zu erwerben, daß wir nicht mehr unsere Bewegung irgendwie sekten­mäßig betreiben dürfen. Ich habe über dieses Faktum des öfteren ge­sprochen. Durchaus ist heute die Zeit gekommen, wo wir nötig haben, jeden einzelnen Mitarbeiter zu übernehmen, aber jeden einzelnen Mit­arbeiter mit der breiten vollen Verantwortung für dasjenige, was er im Sinne unserer Bewegung vertritt. Und diese Verantwortung sollte doch so gestaltet sein, daß sie eben verknüpft ist damit, sich verpflichtet zu fühlen, nichts zu sagen, was nicht durch innere Gründe in rechtem Zusammenhang erscheint mit dem allgemeinen Gang der heutigen Welt­ereignisse. Am wenigsten im Einklang mit den heutigen Weltereignis­sen ist ein sektiererisches Treiben. Was heute vertreten werden soll, muß durchaus im Angesichte der ganzen Welt vertreten werden können und darf weder einen sektiererischen noch einen dilettantischen Charakter tragen, gleichgültig, ob es Gesprochenes oder ob es Getanes ist. Wir dürfen nicht zurückschrecken davor, durchzusegeln zwischen der Skylla und der Charybdis.

Gewiß wird sich mancher sagen und damit auf eine gewisse Skylla

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deuten: Wie soll ich mich denn darüber informieren, was heute geschieht, da der Gang der Ereignisse ein so verwickelter geworden ist, da man heute so schwer aus den Symptomen auf die innere Bewegung der Tatsachen schließen kann? ‑ Aber das soll eben nicht, ich möchte sagen, zur Charybdis hinführen, das heißt, tatenlos zu sein; sondern es sollte eben zum richtigen Durchsegeln führen, nämlich zum Fühlen der Ver­pflichtung, sich, so gut es geht, mit allen nur zugänglichen Mitteln in Einklang zu versetzen mit dem Gang der allgemeinen Weltenereignisse. Es ist ja gewiß leichter, sich zu sagen: Da ist die Anthroposophie, die lerne ich; auf ihrem Boden denke ich auch ein bißchen nach, erforsche das eine oder das andere und das vertrete ich dann vor der Welt. ‑ Gerade dadurch kommen wir in die Sektiererei hinein, wenn wir so, gewissermaßen mit Scheuledern gegenüber den so großen, wichtigen Ereignissen der Gegenwart, einfach ohne rechts und links zu sehen, auf einem solchen Wege tätig sein wollen, wie ich es eben angedeutet habe. Uns obliegt es, den Gang der Ereignisse der Gegenwart zu studieren und vor allen Dingen bei diesem Studieren zugrunde zu legen dasjenige, was uns an Urteilen zukommen kann durch die Tatsachen, die aus anthroposophischer Geisteswissenschaft selber folgen.

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Bei allem, was hier von mir gesprochen wird, liegt immer zugrunde die Verantwortung gegenüber dem ganzen Gang der gegenwärtigen Weltereignisse. Bei jedem einzelnen Satze, bei jedem einzelnen Worte liegt diese Verantwortung zugrunde. ich muß das schon erwähnen aus dem Grunde, weil es nicht immer in aller Schärfe eingesehen wird. Wenn heute in derselben Weise fortgefahren wird, von Mystik zu reden, wie (67) viele im Laufe des 19. Jahrhunderts von Mystik geredet haben, dann steht das nicht mehr im Einklange mit dem, was die Welt heute fordert. Und wenn nur zu dem, was sonst im Gang der Weltereignisse geschieht, der Inhalt der anthroposophischen Lehre hinzugesetzt wird, so steht das ebenfalls nicht im Einklange mit den Anforderungen der Gegen­wart. Erinnern Sie sich, wie im Mittelpunkt der Betrachtungen, die ich seit Jahrzehnten pflege, das Problem, das Rätsel der menschlichen Frei­heit steht. Dieses Problem der menschlichen Freiheit, wir müssen es heute in den Mittelpunkt einer jeglichen und wirklich geisteswissen­schaftlichen Betrachtung stellen.

 

Wir müssen dies aus zwei Gründen tun. Erstens deshalb, weil alles, was aus den alten Mysterien heraus aufgebracht worden ist, was durch die Initiationswissenschaft der alten Zeit vor die Welt hingestellt wor­den ist, weil alles das ohne ein wirkliches Begreifen des Rätsels der menschlichen Freiheit dasteht. Großartiges, Gewaltiges haben die Lehrer der alten Mysterien der Menschheit überliefern können. Großartiges, Gewaltiges liegt in den mythischen Überlieferungen der verschiedenen Völker, die ja auch esoterisch erläutert werden dürfen, freilich nicht so, wie man es oft macht. Großartiges liegt in den sonstigen Überlieferun­gen, die ihren Quell in der Initiationswissenschaft alter Zeit haben, wenn man sie nur in der richtigen Weise versteht. Aber eines liegt in alledem nicht, eines liegt nicht in der Initiationswissenschaft der alten Mysterien, nicht in den Mythen der verschiedenen Völker, auch wenn sie esoterisch verstanden werden, nicht in den Traditionen, die sich her­schreiben aus dieser Initiationswissenschaft: das ist das Rätsel von der menschlichen Freiheit. Denn derjenige, der von einer Initiationswissen­schaft, von einer Einweihung der Gegenwart ausgeht, der begreift, wie Einweihung der Gegenwart sich hinstellt neben Einweihung der Ver­gangenheit, der weiß, daß die Menschheit in ihrer Entwickelung über die Erde hin erst jetzt in das Stadium wirklicher Freiheit eintritt, und daß es einfach früher nicht nötig war, der Menschheit eine Initiations­wissenschaft zu geben, die ganz imprägniert wäre von dem Rätsel der Freiheit. Was alles das Rätsel der Freiheit umschließt, in welche Lage die menschliche Seele versetzt ist, wenn sie das Rätsel der Freiheit völlig klar auf sie abgeladen findet, das ahnen die wenigsten Menschen heute.

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Alle Initiationswissenschaft muß ja ein neues Licht empfangen durch dieses Rätsel der menschlichen Freiheit. Das auf der einen Seite. Wir sehen, wie sich fortsetzen aus alten Zeiten in direkter Kontinuation, möchte ich sagen, Geheimgesellschaften, die zum Teil recht stark in dem Leben der Gegenwart stehen, die aber nur das Alte bewahren, nur das Alte nachahmen, nur fortwirken im Sinne des Alten, und die doch nichts weiter sind, als Schatten des Alten, die nichts weiter sind als etwas, was, wenn es heute wirkt, der Menschheit schädlich sein muß.

Man muß einsehen, daß selbst die einstmals größten Mysterien, wollte sie heute jemand lehren, schädlich für die Menschheit wären. Niemand, der das Wesen gegenwärtiger Initiation versteht, kann wie etwas Ge­genwärtiges lehren, was einst in den ägyptischen, in den chaldäischen, in den indischen, selbst in den griechischen Mysterien, die uns noch so nahestehen, gelehrt worden ist. Aber schließlich ist alles, was an Lehre über das Christentum vorgebracht worden ist bis jetzt, aus diesen tra­ditionellen Lehren heraus vorgebracht worden. Und nötig haben wir, aus einer neuen Lehre neu das Mysterium von Golgatha zu verstehen. Das, wie gesagt, auf der einen Seite.

Auf der andern Seite sehen wir den Gang der Zeitereignisse. Wir sehen, wie aus unterbewußten, tiefliegenden Gründen der Menschen­seele heraufzieht das Streben nach dem Freiheitsimpuls. Wir sehen, wie gewissermaßen dieser Ruf nach Freiheit das menschliche Streben der neueren Zeit durchtönt. ja, er durchtönt dieses Streben, aber es durch­tönt so vieles das menschliche Streben, was nicht klar verstanden wird, was nur aus unterbewußten Tiefen herauftönt und was eben mit kla­rem Verständnis erst durchdrungen werden muß. Man möchte sagen: Die Menschheit lechzt nach Freiheit! Die Initiationswissenschaft weiß, daß sie eine Initiationswissenschaft geben muß, beleuchtet von dem Lichte der Freiheit.

Und diese zwei Dinge, dieses Streben der Menschheit und dieses Herausschaffen einer Initiationsweisheit, beleuchtet mit dem Lichte der Freiheit, diese zwei Dinge müssen zusammenkommen. Sie müssen zu­sammenkommen auf allen Gebieten. Daher darf man heute nicht aus allen möglichen alten Untergründen heraus über die soziale Frage reden. Man kann heute über sie nur dann reden, wenn man sie im Lichte der

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Geisteswissenschaft betrachtet. Das wird gerade der heutigen Menschheit so schwer. Warum? - Ja, die Menschheit strebt nach Freiheit, nach Freiheit der einzelnen Individualität, und mit Recht strebt sie darnach. Ich sage durchaus: mit Recht. Die Menschen können nicht mehr im Sinne des alten Gruppensystems mit den Gruppenseelen wirken. Die Menschen müssen Individualitäten bilden. Aber dieses Streben, Individualitäten zu bilden, das scheint zu widersprechen dem Hinhorchen auf das, was aus der Initiationswissenschaft kommt und was ja selbstverständlich zunächst durch einzelne Individuen kommen muß. Der alte Initiierte hatte Mittel und Wege, sich seine Schüler auszusuchen, seinen Schülern die Initiationsweisheit zu übertragen und auch Anerkennung für sie zu schaffen und Anerkennung für sich und seine Mysterienstätte. Der moderne Initiierte kann das nicht haben, denn es würde notwendig machen, daß man aus gewissen Kräften und Impulsen der Gruppenseelenhaftigkeit heraus wirke, und das geht heute nicht. So steht heute die Menschheit da; jeder möchte von dem Standpunkte aus, auf dem er gerade steht, eine Individualität werden. Da will er selbstverständlich nicht auf das hören, was da durch Menschen als Initiationswissenschaft kommt. Aber ehe nicht die Menschen einsehen, daß sie nur gerade dadurch Individualitäten werden können, daß sie wiederum durch andere menschliche Individualitäten den Inhalt der Initiationswissenschaft aufnehmen, eher kann es nicht besser werden. Das hängt nicht nur zusammen mit einzelnen Weltanschauungsfragen, das hängt zusammen mit dem Grundcharakter unseres ganzen Zeitalters und mit den Auswirkungen dieses Zeitalters auf geistigem, auf staatlichem und wirtschaftlichem Gebiete. Nach Freiheit dürstet die Menschheit. Von Freiheit möchte die Initiationswissenschaft sprechen. Wir sind aber im gegenwärtigen Entwickelungsstadium der Menschheit eigentlich erst da angekommen, wo Freiheit durch den gesunden Menschenverstand wirklich begriffen werden kann. Heute muß man manches einsehen, was Sie aus unserer anthroposophischen Literatur entnehmen können und was ich hier wiederum von gewissen Gesichtspunkten aus kurz zusammenfassen möchte. Man muß heute begreifen, was für eine Art von Wesen der Mensch ist. Alles abstrakte Schwätzen von Monismus läuft gerade vorbei an dem wahren Monismus, der errungen sein will, nachdem man (70) manches andere durchgemacht hat, den man aber nicht von vornherein als eine Weltanschauung deklamieren kann.


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