Rudolf Steiner: Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen, Stuttgart, 8. September 1919 - GA 192 S. 348ff
Die Wahrheit auch wahr sprechen
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Ich habe schon oft hier, am Schlusse meiner Ausführungen, ausgesprochen, daß ich so froh wäre, wenn es mir gelänge, trotz der unvollkommenen Art, in der selbstverständlich so etwas vorgebracht werden muß, Widerhall in den Herzen der Freunde zu finden, wirklichen Widerhall zu finden. Denn es kommt mir niemals darauf an, ihnen bloß theoretisch dies oder jenes plausibel zu machen, sondern es kommt mir darauf an, dasjenige zu deuten, was die Zeichen der Zeit für die Gegenwart dem Menschen einprägen möchten. Es kommt mir nicht darauf an, durch diese oder jene Behauptung zu überraschen, oder nicht zu überraschen, sondern es kommt mir nur darauf an, das zu sagen, was für die Gegenwart wirklich notwendig ist.
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Lagen nicht der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft, wie ich sie vertrete, diese Prinzipien zugrunde? Jedem anderen Prinzip gegenüber wäre es vielleicht besser gewesen, das Wirken für diese anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft zu unterlassen. Zu unterlassen aus dem einfachen Grunde, weil es ganz selbstverständlich ist, daß aus dem, was in den Menschen der Gegenwart lebt, der Einzelne, der Geisteswissenschaft zu vertreten hat, mit allem möglichen Unrat beworfen wird. Das ist ganz selbstverständlich. Das kann nicht anders sein, denn so ist eben die Gegenwart in der heutigen Übergangsepoche. Es kann sich nur darum handeln, Geisteswissenschaft zu vertreten, Geisteswissenschaft zu verkünden, weil man die dringende Notwendigkeit einsieht, das, was durch die Geisteswissenschaft verkündet wird, gerade in der Gegenwart an die Menschheit heranzubringen. Man darf eben nicht von einer bloß sukzessiven Entwickelung sprechen, sondern man muß sprechen von Umschwüngen in der Entwickelung. Die Pflanze entwickelt sich auch sukzessiv, aber der Übergang vom Laubblatt zum farbigen Blumenblatt ist ein schroffer. So hat sich die Menschheit sukzessiv entwickelt; aber der Übergang von der Zeit, wo die Entwickelung der Menschheit geführt wurde von göttlich-geistigen Wesen, die den Menschen zur Vollkommenheit brachten, zu der Zeit, wo der Mensch sich selbst regen muß, dieser Übergang ist ein schroffer, und er muß vollzogen werden. Und ohne das Bekenntnis zu einem schroffen Übergang kommt man über den Rubikon der heutigen Kulturmisere nicht hinweg. Wer immerzu dieses oder jenes will, weil es gerade bequem ist, aus dem alten Fahrwasser mit hinüberzunehmen, der kommt nicht wirklich drüben an, in den Gebieten, von denen aus sich die Impulse der Zukunftskultur entwickeln können.
Wahrhaftig, die Dinge, die heute unternommen werden müssen, sie sind nicht von der Art, wenn sie aussichtsvoll sein sollen, wie sie gedacht werden da oder dort, sondern sie sind von der Art, wie zum Beispiel unsere Waldorfschule ist. Mit der Waldorfschule wird etwas unternommen, von dem man gar nicht anders sagen kann, als daß es dem, dem es ernst damit ist, zur schwersten Sorge des Lebens wird. Ich zum Beispiel gestehe Ihnen ganz offen: Betrachte ich die geistige Konstitution
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der Gegenwart, und sehe ich die Notwendigkeit, bei der Begründung einer solchen Schule mitzuwirken, dann wird mir etwas im Herzen, das ich schon so bezeichnen darf: daß ich ja schon mancherlei Sorge gehabt habe, daß aber diese Waldorfschule zu meinen allergrößten Sorgen gehört. Das kann nicht abhalten davon, diese Dinge zu unternehmen. Nicht deshalb bloß, weil ich etwa glaube, sie würde mißlingen. Sie wird schon gelingen. Aber weil wir werden sorgen müssen dafür, daß immer das Richtige geschieht zu diesem Gelingen. Es wäre ganz eitel, wenn man nicht gestehen wollte, daß diese Sorgen vorhanden sind. Aber vielleicht haben wir doch schon einiges gerade auch für diese spezielle Aufgabe dadurch getan, daß wir uns bemüht haben, auch bei der Besprechung dieses Kapitels wahr, restlos wahr zu sein. Und damit ja nicht die Dinge so genommen werden können, daß man nur das Einseitige sieht, wollte ich heute zu Ihnen das sprechen, was ich eben gesprochen habe. Ich konnte natürlich gestern in der Eröffnungsrede nicht dieselben Töne anschlagen. Ich konnte den Leuten, die dort versammelt waren, nicht sprechen von dem Interesse der höheren Hierarchien, und davon, daß des Menschen Bild fertig ist, daß etwas anderes an die Stelle treten muß und dergleichen. Aber wenn man einen Baum von einer Seite photographiert, so muß er auch von der andern Seite photographiert werden, damit ein vollständiges Bild entsteht. Deshalb mußte ich auch das noch hinzufügen, was ich heute zu Ihnen gesprochen habe. Denn ausgesprochen muß in unserer Zeit werden das, was wahr ist, in einer wahren Weise. Wir müssen auch diesen Satz lernen, daß wir nicht bloß die Wahrheit zu vertreten haben, sondern daß wir auch die Wahrheit wahr zu vertreten haben. Denn heute sind wir durch die Menschheitsentwickelung in der Epoche angekommen, wo man die Wahrheit auch unwahr vertreten kann. Es wird gelernt werden müssen, die Wahrheit wahr zu sagen. Denn auf manchem Gebiete sind heute die Wahrheiten billig wie Brombeeren, weil man sie nur da oder dort aufzulesen hat. Die Menschheitskultur ist in dieser Beziehung eine vollkommene. Aber nur diejenigen erfüllen die Aufgabe für die Zukunft, die nicht nur dasjenige machen, was heute leicht zu machen ist; denn irgendwelche Begriffe zu verknüpfen selbst zu einer neuen Weltanschauung, das ist
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leicht zu machen. Nicht diejenigen machen etwas, was in die Zukunft hineinwirkt, die so verfahren, sondern nur die machen etwas Fruchtbares, die über die Wahrheit aus der wahren Seele heraus sprechen. Nicht allein auf den Wortlaut kommt es heute an, sondern auf das geistige Fluidum, das diesen Wortlaut durchzieht. Dafür muß man sich heute aber ein Gefühl aneignen. Von diesem Gefühl sind die Leute vielfach recht weit entfernt. Man kann heute noch ganze Seiten lesen, ohne daß man darauf kommt, daß der Betreffende, der sie geschrieben hat, ein verlogener Kerl ist. Dazu werden sich die Menschen die Fähigkeit aneignen müssen, nicht allein das Logische zu empfinden, sondern den Wahrheitsquell zu fühlen. Viel innerlicher als diejenigen es glauben, die heute von Innerlichkeit zu sprechen glauben, viel innerlicher wird dasjenige sein, was den Menschen für die Zukunft wird befähigen können, wirklich zu wirken, wirklich etwas zu tun, sei es auch im kleinsten Kreise, was die Menschheit hinüberträgt in die Zukunft.
Deshalb war es schon die ganzen Jahre her notwendig, daß die Dinge, die unter uns besprochen werden, von den verschiedensten Gesichtspunkten aus besprochen werden. Dadurch allein gewinnen wir die Möglichkeit, sie vollständig und kraftvoll zu durchleben. Mit dieser inneren Sehnsucht, heranzutreten an die Weltengeheimnisse und sie innerlich wahr und kraftvoll zu empfinden, mit dieser Sehnsucht müssen wir uns ausrüsten. Nichts anderes wollte ich gerade heute mit diesen Worten, als daß Sie etwas in sich selbst erfühlen lernen von der Notwendigkeit dieser Sehnsucht und von dem Walten von so viel Unwahrem in unserer Zeit und zwischen den Menschen unserer Zeit. Daß Wahrheit werde! Dieses Verlangen möchte man gerade aus dem sorgenvollsten Herzblute heraus heute immer wieder und wiederum der Menschheit zurufen.
Von solchen Dingen wie das, von dem ich ausgegangen bin: daß jemand vollständig einverstanden ist mit einer Sache dem Wortlaute nach, sie aber nicht begreifen kann, weil sie aus dem Geiste kommt, von solchen Dingen muß noch viel, viel gelernt werden. Versuchen Sie gerade das Lernen auf diese Art zu verstehen, und Sie werden den Aufgaben dienen, welche die Gegenwart an Sie stellt. Sie werden noch manches andere finden, als Sie bisher schon gefunden haben, und
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vieles ruht noch im Schoße der Gegenwart, was gefunden werden muß, damit Gesundung in die Menschheit hineinkommt. Aber gefunden ist noch nicht alles Ausgesprochene von der Menschheit. Und wer die Dinge durchschaut, wie sie heute wirken, der weiß nur zu gut, daß dadurch, daß er das eine oder andere gesagt hat, es noch nicht gefunden worden ist von der Menschheit. Helfen Sie dazu, solch ein Wort richtig zu verstehen, dann werden Sie nicht mehr verfehlen, auch dazu zu helfen, daß die Wahrheit nicht bloß der äußeren, logischen Gestalt nach, sondern wahrhaftig in der Menschheit verbreitet werde. Erst dann werden Sie Glieder jenes Ordens sein, den wir brauchen, jenes Ordens, dessen Devise ist, die Wahrheit wahr zu vertreten. Und dessen Geheimnis ist, daß es möglich ist, zwar Wahrheit zu verbreiten, aber die Wahrheit auf unwahre Art zu verbreiten und dadurch mehr zu schaden, als durch die Verbreitung der Lüge oftmals geschadet wird. Dies, meine lieben Freunde, ist wert, bedacht zu werden: was es heißt, Schaden dadurch anzurichten, daß man die Wahrheit unwahr geltend macht.
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